In der kanadischen Verfassung ist Eishockey als Nationalsport festgeschrieben. Sport in der Verfassung: Nicht einmal die Eidgenossenschaft hat Schwingen verfassungsrechtlich als Nationalsport verankert. Das mag zeigen, dass Eishockey für Kanada mehr ist als bloss Sport. Manche sagen sogar eine Ersatzreligion. Wayne Gretzky ist die Ikone dieser Sportart.
Es ist für die Kanadier schmerzlich genug, dass ihr «heiliges Eishockey» vom «unheiligen» US-Dollar gemanagt wird und der Stanley Cup seit 1993 (Montréal Canadiens) nie mehr in Kanada in die Höhe gestemmt worden ist. Sogar ein Team aus Las Vegas, aus der Wüste, aus einer «sündigen» US-Stadt hat inzwischen die wichtigste Hockey-Trophäe gewonnen.
Schlimmer: Nun ist ein Russe und nicht mehr ein Kanadier zum ersten Mal in der Geschichte der beste Eishockeyspieler. Alex Ovechkin (deutsche Schreibweise: Owetschkin) und nicht mehr Wayne Gretzky ist der Allzeit-Rekordtorschütze der NHL. Der Kanadier hat den wichtigsten seiner insgesamt 61 NHL-Rekorde verloren: jenen, für die meisten NHL-Tore. Ein Kulturschock für Kanada.
Am 23. März 1994 hatte Wayne Gretzky mit seinem 802. Tor den damaligen Rekordhalter Gordie Howe – natürlich auch ein Kanadier – überflügelt und war neuer NHL-Allzeit-Rekordschütze geworden. Nun schien die Frage nach dem «Grössten aller Zeiten» für die Ewigkeit geklärt.
Denn Gordie Howe hatte bis ins hohe Alter von 52 Jahren in der NHL gespielt, um seine Rekordmarke zu erreichen. Er trug die Nummer 9. Und weil die Nummer seines Idols in seinem ersten Team schon besetzt war, wählte Wayne Gretzky die Nummer 99. Der wichtigste Rekord geht von Kanadier zu Kanadier. Hockeyromantik pur.
Es ist ja nicht so, dass Wayne Gretzkys Popularität in Kanada nach wie vor eine grenzenlose wäre. Er sorgte in seinem Land schon einmal für einen Hockey-Kulturschock. Die Tränen, die er am 9. August 1988 während der Medienkonferenz vergossen hat, als ihn Edmontons Besitzer Peter Pocklington ausgerechnet nach Hollywood verkaufte, waren wahrscheinlich Krokodilstränen.
Der Transfer löste damals Schockwellen in der kanadischen Gesellschaft aus: Peter Pocklington tauschte Wayne Gretzky bei den Kings nicht nur gegen eine Handvoll Spieler ein. Er bekam vom Klubbesitzer Bruce McNall obendrauf noch 15 Millionen US-Dollar Cash, die er dringend für seine Unternehmen brauchte. Und das Ganze wurde als Liebesromanze verkauft: Wayne Gretzky hatte das amerikanische Hollywood-Sternchen Janet Jones geheiratet – also war der Umzug nach Los Angeles logisch. Der Liebe und nicht dem Geld geschuldet. Oder?
Das Edmonton Journal druckte die grösste Schlagzeile seit dem Ende des 2. Weltkrieges und in einem Kästchen auf der Frontseite wurde vermerkt: «Weitere Geschichten finden sie auf den Seiten 2, 3, 4, 5, 6, 11, 18, 19, 23, 30, 36, 37, 38, 39, 40, 42, 43, 46 und 67.»
Rückblickend war dieses spektakulärste Tauschgeschäft der NHL-Geschichte das Ende einer Ära und der Beginn der modernen NHL als Big Business. Die Liga umfasst im Sommer 1988 erst 21 Teams und in den 1990er Jahren beginnt die Expansion auf heute 32 Mannschaften und 30-mal höhere Durchschnittslöhne.
Die Kanadier haben später auch darüber hinweggesehen, dass Gretzkys Freund Bruce McNall im Knast landete, weil er Banken um gut 300 Millionen Dollar erleichtert hatte. Und dass er die Feier für die Verewigung seiner Nummer 99 in Los Angeles verschob, bis sein Kumpel wieder auf freiem Fuss war. Es schmerzte immer ein wenig, dass Wayne Gretzky seit 1988 in den USA lebt, in den USA als Mitbesitzer ein NHL-Team coachte (zeitweise gehörte unser Nationaltrainer Patrick Fischer in Phoenix zu seinen Spielern) und ihm Donald Trump heute politisch nähersteht als Justin Trudeau.
Aber er ist Kanadier! Der beste Eishockeyspieler der Geschichte! Das zählt mehr als alles andere. Und mit seinem feinen Stil und seiner für NHL-Verhältnisse eher schmächtigen Statur (183 cm/84 kg) bleibt er der Karajan des Hockeys und verkörpert die wahre Hockeykultur. Mit Kunst triumphiert er 21 Jahre lang (1978 bis 1999) in der NHL über rohe Kraft.
Und nun hat er seinen wichtigsten Rekord ausgerechnet an Alex Ovechkin verloren. An die Symbolfigur des modernen, von den Amerikanern beherrschten und von US-Teams sportlich dominierten Hockey-Kapitalismus. Wenn Wayne Gretzky der freundliche, leise Herbert von Karajan des Hockeys war, so smart, dass er kaum je einen Check kassierte oder einstecken musste, dann ist Alex Ovechkin eher der laute, testosterongetriebene Rockstar des Hockeys.
Eine raue, robuste, fast roboterhaft wirkende, unzerstörbare und unaufhaltsame Tormaschine, die irgendwie an die Filmfigur «Robocop» erinnert. Eine einmalige Mischung aus Kraft, Wucht, Härte, Tempo, Talent und Wille (187 cm/107 kg). Auch der optische Gegensatz zwischen dem stets bartlosen Wayne Gretzky mit einem damals bereits antik wirkenden Hockeyhelm und Alex Ovechkin mit dem von der NHL später verbotenen getönten Visier und den gelben Schnürsenkeln könnte grösser nicht sein.
Wayne Gretzky beendete seine Karriere im Frühjahr 1999 im Alter von 39 Jahren bei den Rangers. Seither hat Kanada auf «The Next One» gewartet. Bei jedem Junior mit aussergewöhnlichen Skorerwerten gehofft. Viele galten als mögliche Gretzky-Nachfolger. Zwei stürmten auch in unserer National League: Der Schillerfalter Alex Daigle und der als NHL-Legende hochverehrte Joe Thornton.
Aber nicht einmal Sidney Crosby, Verlängerungs-Goldtorschütze im Olympiafinal von 2010 in Vancouver gegen die Amerikaner, ist der «nächste Gretzky» geworden. Und Connor McDavid, wie einst Gretzky in Edmonton, wird es wohl nicht. Der Kanadier ist schon 28 und erst bei 361 Toren angelangt. Der Einzige mit dem Potenzial zum nächsten Gretzky war Mario Lemieux. Er brachte es auf 690 Tore. Aber Verletzungen und eine Krebserkrankung beeinträchtigten seine grandiose Karriere.
Ausgerechnet Alex Ovechkin ist im Alter von 39 Jahren in seiner 20. NHL-Saison der neue Gretzky geworden. Wenigstens statistisch. Er hat die nordamerikanische Hockeywelt mit seiner Rekordjagd elektrisiert wie nie mehr ein Spieler seit Wayne Gretzkys Wechsel von Edmonton nach Los Angeles. Er ist die charismatische Heldenfigur mit Ausstrahlung im US-Sport, im wichtigsten Markt für die NHL, die gegen Football, Baseball und Basketball einen heroischen Kampf um TV-Quoten und Vermarktung führt. Um das Sieben-Milliarden-Business NHL mit 25 von 32 Teams in den USA in Gang zu halten.
Alex Ovechkin ist für die NHL ein Geschenk des Himmels. Er ist so wie Superstars im US-Sport sein müssen. Wohlhabend, charismatisch und sportlich der Grösste. Er verdient mit aktuell 11 Millionen zwar lediglich etwas mehr als zwei Millionen mehr als einst Wayne Gretzky in seinen besten Jahren, gilt aber mit einem geschätzten Vermögen von 100 Millionen als reichster NHL-Star. Sein Vertrag bringt ihm nächste Saison im letzten Vertragsjahr noch 9 Millionen ein und er wird dann brutto gut 161 Millionen mit dem Eishockey verdient haben.
Als Putin-Versteher aus dem «Reich des Bösen» mit einem Wohnsitz auch in Moskau ist er durch die weltpolitische Lage erst recht kontrovers. Skandale hat sich der Familienvater aber keine zuschulden kommen lassen, die das bigotte Amerika gegen ihn aufgebracht hätten, und seine Herkunft ist ohnehin eine sportliche: Seine Mutter Tatjana war 1976 und 1980 Volley-Olympiasiegerin. Von ihr hat er die Nummer 8 übernommen. Er hat in der NHL noch nie für ein anderes Team als für die Capitals in der US-Hauptstadt Washington gespielt. Auch das ist ein Nadelstich in die kanadische Hockey-Seele.
Der neue Torrekord hat Alex Ovechkin die sportliche «Heiligsprechung» beschert: Er ist besser als Wayne Gretzky. Ein Kulturschock für Kanada. Wenigstens durfte Kanadas National- und Eishockeydichter Al Purdy («Eishockey ist eine Mischung aus Ballett und Mord») im Jahre 2000 noch die Gewissheit in die Ewigkeit mitnehmen, dass Wayne Gretzky der Grösste ist.
Klar Ovi ist nun der, mit den meisten Toren und das ist ein grandioser Erfolg. Aber um der GOAT zu sein muss man auch in anderen Statistiken vorne sein, eben ein Allrounder und da sind mind. eine Handvoll andere weiter als Ovi.